Mangel
Beriberi
Die Krankheit, die durch schweren Thiamin-Mangel entsteht, nennt sich Beriberi. Sie wurde in der alten chinesischen Literatur bereits um 2600 v. Chr. beschrieben. Ein Thiamin-Mangel wirkt sich auf den Kreislauf, die Nerven, das Muskel- und das Magen-Darm-System aus (2). Die verschiedenen Verlaufsformen von Beriberi werden als trocken, nass, oder zerebral beschrieben, jeweils abhängig davon, welche Organsysteme vom schweren Thiamin-Mangel im Einzelfall betroffen sind (1).
Trockene Berberi
Das wichtigste Merkmal der trockenen (paralytischen oder nervösen) Beriberi ist eine periphere Neuropathie. Im frühen Verlauf der Neuropathie kann sich ein brennendes Gefühl an den Füssen zeigen. Weitere Symptome sind abnorme (übertriebene) Reflexe sowie ein vermindertes Empfinden und Schwäche in Beinen und Armen. Muskelschmerzen und Schwierigkeiten, aus einer hockenden Position aufzustehen wurden ebenfalls beobachtet. Bei schwerem Thiamingehalt können Krampfanfälle auftreten.
Nasse Beriberi
Neben den neurologischen Symptomen zeichnet sich die nasse (kardiale) Beriberi durch Herz-Kreislauf-Erscheinungsformen aus, die sich unter anderem durch eine schnelle Herzfrequenz, eine Vergrößerung des Herzens, starke Schwellungen (Ödeme), Schwierigkeiten beim Atmen, und letztendlich Herzinsuffizienz manifestieren.
Zerebrale Beriberi
Zerebrale Beriberi kann zum Auftreten der Wernicke-Korsakoff-Enzephalopathie und der Korsakoff-Psychose führen, insbesondere bei Menschen, die übermäßig Alkohol konsumieren. Die Diagnose einer Wernicke-Enzephalopathie basiert auf einer "Triade" von Zeichen, zu denen abnorme Augenbewegungen, Haltungs- und Ganganomalien zählen, sowie geistige Symptome wie ein verwirrter apathischer Zustand oder eine starke Gedächtnisstörung, bekannt als Korsakoff's Amnesie oder Korsakoff-Psychose. Ein Thiamin-Mangel, der das zentrale Nervensystem betrifft, wird als Wernicke-Krankheit bezeichnet, wenn Amnesie nicht vorhanden ist, und als Wernicke-Korsakoff-Syndrom (WKS), wenn die Symptome Amnesie und Anomalien der Augenbewegung und des Gangs gemeinsam auftreten. Die meisten Patienten mit WKS sind Alkoholkranke, obwohl das Syndrom auch bei anderen Erkrankungen beobachtet werden konnte, wie allgemeiner Unterernährung, auch bei Magenkrebs und AIDS.
Eine intravenöse Verabreichung von Thiamin an WKS Patienten führt in der Regel zu einer sofortigen Verbesserung der Augenbewegungen, aber die Verbesserung der motorischen Koordination und des Gedächtnisses können zunächst geringer ausfallen, je nachdem, wie lange die Symptome schon bestanden haben. Aktuelle Anzeichen für eine erhöhte Aktivierung von Immunzellen und eine erhöhte Produktion freier Radikale in den Bereichen des Gehirns, die gezielt geschädigt werden, deutet darauf hin, dass oxidativer Stress eine wichtige Rolle in der neurologischen Pathologie des Thiamin-Mangels spielt (4).
Ursachen für einen Thiamin-Mangel
Thiamin-Mangel kann entstehen durch unzureichende Zufuhr von Thiamin, erhöhten Bedarf an Thiamin, übermäßigen Verlust von Thiamin aus dem Körper, den Verbrauch von Anti-Thiamin-Faktoren in der Nahrung, oder einer Kombination dieser Faktoren.
Unzureichende Aufnahme
Unzureichende Zufuhr von Thiamin ist die Hauptursache von Thiamin-Mangel in den unterentwickelten Ländern (2), besonders bei einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen, deren Ernährung reich an Kohlenhydraten ist (z. B. geschälter oder polierter Reis). Gestillte Säuglingen, deren Mütter unter Thiamin-Mangel leiden, sind anfällig für die Entwicklung der infantilen Beriberi.
In den Industrieländern hingegen ist Alkoholismus, in Verbindung mit niedriger Aufnahme von Thiamin und anderen Nährstoffe, die primäre Ursache von Thiamin-Mangel.
Erhöhter Bedarf
Zu den Umständen, die zu einem erhöhten Bedarf an Thiamin führen, zählen schwere körperliche Anstrengung, Fieber, Schwangerschaft, Stillzeit und jugendliches Wachstum. Diese Zustände führen bei Personen mit einer marginalen Thiaminaufnahme zu einem deutlich erhöhten Risiko für die Entwicklung eines symptomatischen Thiamin-Mangels.
Ende der 1990er Jahre wurde herausgefunden, dass Malaria-Patienten in Thailand häufer an starkem Thiamin-Mangel litten als nicht-infizierte Personen (5). Eine Malaria-Infektion führt zu einem starken Anstieg des Glucosebedarfs im Stoffwechsel. Da Thiamin für die Funktion von Enzymen des Glukosestoffwechsels notwendig ist, könnte die Belastung durch Malaria-Infektion zu einem schwereren Thiamin-Mangel in prädisponierten Personen führen. HIV-infizierte Personen weisen unabhängig davon, ob sie bereits AIDS entwickelt haben, auch ein erhöhtes Risiko für Thiamin-Mangel auf (6), da bei ihnen ein erhöhter Bedarf an Thiamin besteht. Weiterhin beeinträchtigt der chronische Alkoholmissbrauch die intestinale Absorption und Verwertung von Thiamin und vielen anderen Vitaminen (1), weshalb Alkoholkranke einen erhöhten Bedarf an Thiamin besitzen.
Übermäßiger Thiamin-Verlust
Ein übermäßiger Verlust von Thiamin kann sich ebenfalls als Thiamin-Mangel manifestieren. Durch die Erhöhung der ausgeschiedenen Urinmenge könnten Diuretika die Resorption von Thiamin über die Nieren verhindern und ihre Ausscheidung im Urin erhöhen (7, 8), obwohl dies nach wie vor sehr umstritten ist.
Personen mit Niereninsuffizienz, die regelmäßig eine Hämodialyse benötigen, verlieren Thiamin in erhöhtem Ausmaß und haben ein erhöhtes Risiko für Thiamin-Mangel (9). Alkoholkranke, die eine hohe Flüssigkeitsaufnahme und Urinausscheidungsrate aufweisen, können ebenfalls in gesteigertem Ausmaß Thiamin verlieren, wodurch die Auswirkungen der ohnehin niedrigen Thiamin-Aufnahme verschlimmert werden (10).
Anti-Thiamin-Faktoren (ATF)
Das Vorhandensein von Anti-Thiamin-Faktoren (ATF) in Lebensmitteln trägt ebenfalls zum Risiko des Thiamin-Mangels bei. Einige Pflanzen enthalten ATF, welche mit Thiamin zu einem oxidierten, inaktiven Produkt verschmelzen.
Der Konsum großer Mengen von Tee und Kaffee (auch entkoffeiniert), sowie das Kauen von Teeblättern und Betelnüssen wurde im Zusammenhang mit Thiamin-Mangel beim Menschen gebracht, und dies aufgrund des Vorhandenseins der ATF. Thiaminasen sind Enzyme, die gezielt Thiamin in Lebensmitteln zerstören. Personen, die häufig bestimmte rohe Süßwasserfische, rohe Muscheln und Farne essen, sind einem höheren Risiko von Thiamin-Mangel ausgesetzt, da diese Lebensmittel Thiaminase enthalten, welche jedoch normalerweise durch die Hitze beim Kochen inaktiviert wird (1).
In Nigeria wurde ein akutes neurologisches Syndrom (die säisonale Ataxie) mit Thiamin-Mangel in Verbindung gebracht, die durch Thiaminase aus afrikanischen Seidenraupen zustande kommt, welches ein traditionelles proteinreiches Essen für einige Nigerianer ist (11).
(Die Ziffern in Klammern verweisen auf das Quellenverzeichnis.)