Depressionen

Daniel geht es nicht gut und er kann nicht schlafen. Seine Eltern streiten mal wieder. Die morgige Mathearbeit wird er sicher verhauen, so wie er auch sonst überall versagt. Er dreht sich unruhig in seinem Bett herum, sagt sich immer wieder, dass einen Verlierer wie ihn sowieso niemand braucht und zieht sich die Decke über den Kopf. Sein Arm schmerzt, denn gestern hat er sich geprügelt - mit zwei Jungen, die ihm gar nichts getan haben. Und morgen soll er zum Schuldirektor, um sein Verhalten zu erklären - doch das kann er nicht. Er weiß ja selbst nicht, was mit ihm los ist.

Daniel leidet unter Depressionen, aber weder ihm noch seinen Eltern ist dies bewusst. Oft werden Warnsignale wie Aggressivität als pubertäre Trotzreaktionen gewertet und heruntergespielt. Ergebnisse jüngerer Studien zeigen jedoch, dass ein wachsender Prozentsatz Kinder und Jugendlicher klinisch bedeutsame depressive Störungen hat; im ersten Lebensjahr-zehnt überwiegend Jungen, im zweiten meist Mädchen. In der Bremer Jugendstudie, durchgeführt vom Zentrum für Rehabilitationsforschung der Universität Bremen in Kooperation mit dem Psychologischen Institut der Universität Münster, wurden 1.035 Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren aus 36 Schulen in Bremen interviewt. 18 Prozent litten an Depressionen, davon waren lediglich 3 Prozent in Behandlung.

Oft sind Depressionen Zufallsbefunde. Die Vorsorgeuntersuchung J1, ein kostenloses Angebot an alle 13- bis 15-Jährigen, wird von Jugendlichen zu wenig genutzt. Dort wird auch nach seelischen Störungen gefragt, nach Problemen in der Schule und in der Familie. Jugendliche können ohne Eltern diesen Arzttermin wahrnehmen. Ärzte und Psychologen sich einig sind, dass Kinder heutzutage zu viel Stress haben, zu wenig Schlaf und zu wenig Bewegung.

Die Ursachen können unterschiedlichen Ursprungs sein. Zum einen haben genetische FaktorenEinfluss auf die Erkrankung: Bei einem depressiven Elternteil beträgt das Erkrankungsrisiko des Kindes zwischen 10 bis 20 Prozent. Sind beide Eltern erkrankt, steigt das Risiko auf bis zu 60 Prozent an.
Zum anderen spielen biochemische Faktoren eine Rolle, wie zum Beispiel der Mangel an speziellen Botenstoffen, besonders des Neurotransmitters Serotonin. Fehlt dieser Botenstoff, werden Gehirnströme verlangsamt, und die Kinder fühlen sich schlapp und leiden unter 'gedrückter' Stimmung.
Eine andere bzw. zusätzliche Ursache stellen die psychologischen Faktoren dar. Belastungen unterschiedlicher Art können zu Depressionen führen: familiäre Krisen, Überforderung, ständige Kritik und Demütigung durch andere, der Mangel an Lebenszielen oder auch der Mangel an Grenzen. Ausschlaggebend ist das Empfinden, Negatives durch eigenes Tun nicht abwenden oder beeinflussen zu können. Fortan wird diese negative Grundeinstellung auf alle neuen Situationen übertragen. Eine Misserfolgserwartung wird antrainiert, die mit überhöhten Ansprüchen an die eigene Person einher geht. Den Kindern fehlt es an Impulsen, an so genannten "positiven Verstärkern", zum Beispiel eigenen Erfolgen, Lob und Anerkennung.

Welche Signale senden Kinder, wenn ihre Seele wund ist? Die Symptome sind ebenso vielfältig wie die Ursachen. Mädchen tendieren dazu, sich zurückzuziehen. Sie klagen über Bauch- und Kopfschmerzen, wirken stark introvertiert und übermäßig schüchtern. Ihr sozialer Rückzug wird oft begleitet durch Autoaggressivität (Schnittverletzungen, Magersucht, Bulimie). Jungen kehren ihre Aggression nach außen. Sie schwänzen die Schule, sind hyperaktiv, streiten viel oder beginnen zu stehlen. Die Symptome sind jedoch nicht zwangsläufig immer auf ein Geschlecht festgelegt.
Mangelndes Selbstwertgefühl, dissoziales Verhalten sowie Sucht- und Essstörungen sind grundlegende Symptome depressiver Jugendlicher, die keineswegs als pubertäre Probleme oder ADS (Aufmerksamkeitsdefizit) abgetan werden dürfen.

Als letzten Ausweg wählen manche depressive Jugendliche den Selbstmord. In Deutschland versuchen täglich 40 Kinder, sich das Leben zu nehmen, für 3 von ihnen kommt jede Rettung zu spät. 60 Prozent der jugendlichen Selbstmörder leiden unter Depressionen.

Gegen Depressionen mit genetischer und biochemischer Ursache hilft eine gezielte Medikation. Das Trainieren von Konfliktlösungsstrategien, Streitigkeiten zu vermeiden und mit ihnen umzugehen, wird beispielweise an vielen Schulen von Mediatoren unterrichtet. Kritikfähigkeit und effektive Argumentationstechnik wird auch in bundesweiten Debattierclubs trainiert.

Ist der Direktor an Daniels Schule gut informiert, wird er ihn am nächsten Morgen nicht als gewalttätigen Schläger abtun und mit Nachsitzen bestrafen. Auffällige Jugendliche dürfen nicht von der Gemeinschaft distanziert werden. Ihr Verhalten spiegelt vielmehr ihre Wut darüber wider, nicht dabei zu sein. Denn wer abgelehnt wird, reagiert schnell mit Ablehnung und vergräbt sich im depressiven Alleinsein.

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