WHO warnt: Hohes Risiko der internationalen Verbreitung von Polioviren

22.04.2020

Das Risiko einer internationalen Ausbreitung von Polioviren hat laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) den höchsten Stand seit 2014 erreicht. Damals hatte die WHO eine ‚Gesundheitliche Notlage von globaler Bedeutung‘ ausgerufen. Die zunehmende internationale Verbreitung sowohl der Wildpolioviren als auch der zirkulierenden Vakzine-assoziierten Polioviren (aus dem Polio-Lebendimpfstoff hervorgegangene Viren, die ihre Virulenz durch Mutation wiedererlangen) schätzt die WHO als ernste Bedrohung der Polioeradikation ein.

Was bedeutet das für Deutschland? Impfempfehlung der STIKO

Die Grundimmunisierung erfolgt in Deutschland seit 1998 nur noch mit der inaktivierten Polio-Vakzine (IPV) als Kombinationsimpfstoff mit vier Dosen im Säuglings- und Kleinkindalter und mit einer einmaligen Auffrischimpfung im Alter von 9 – 16 Jahren. Erwachsene, die nicht im Kleinkindalter immunisiert wurden, müssen eine 3-malige Impfung mit IPV im Mindestabstand von einem Monat sowie nach zehn Jahren eine Auffrischimpfung erhalten. Dafür steht auch ein monovalenter Impfstoff zur Verfügung. Weitere routinemäßige Auffrischimpfungen für Erwachsene, die in Deutschland leben und kein z. B. berufliches Risiko haben, werden nicht empfohlen.

Impfempfehlung für Reisende

Reisende in Regionen mit einem potentiellen Polio-Infektionsrisiko wird von der STIKO eine Auffrischimpfung alle 10 Jahre empfohlen, es sei denn, es gibt für das betreffende Reiseland eine aktuelle WHO-Empfehlung für einen kürzeren Impfabstand. Sonst kann es geschehen, dass der Reisende das Land ohne aktuellen Impfschutz nicht verlassen darf und deswegen pflichtgeimpft wird. Personen ohne Grundimmunisierung sollten wenigstens zwei Impfstoffdosen IPV vor Reisebeginn erhalten.
Die WHO gibt jährlich mehrfach temporäre Impfempfehlungen aus für Länder, in denen das Wildpoliovirus 1 oder Vakzine-assoziierte Viren zirkulieren. Reisende sollten unbedingt die stets aktuellen Polio-Impfempfehlungen des Auswärtigen Amtes beachten:
https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/reise-und-sicherheitshinweise

Aktuelle globale Situation

1988, als die GPEI (Global Polio Eradication Initiative) gegründet wurde, waren die drei Wildpoliovirus-Typen (WPV 1, 2 und 3) noch in 125 Ländern der Welt endemisch und verursachten weltweit schätzungsweise 350 000 paralytische Poliomyelitisfälle. Dank der globalen Impfkampagnen konnten die Krankheitsfälle um über 99 Prozent zurückgedrängt werden. In vier der sechs WHO-Regionen konnte die Poliomyelitis bereits eliminiert werden, in der Europäischen Region im Jahr 2002. Von den drei Wildpoliovirus-Typen konnten weltweit schon zwei eliminiert werden:  WPV 2 im Jahr 2015 und WPV 3 im Jahr 2019. Endemisch kommt nur noch WPV 1 vor, und zwar in Afghanistan und Pakistan. In diesen beiden Ländern stieg die Zahl der gemeldeten Wildpolio-Fälle in den letzten Jahren wieder an: im Jahr 2017 wurden aus Afghanistan und Pakistan 22 WPV-1-Fälle gemeldet, im Jahr 2018 erhöhte sich die Fallzahl auf 33 und stieg 2019 auf 125.
Besorgniserregend wächst die Zahl von Erkrankungen, die durch zirkulierende Vakzine-assoziierte Viren hervorgerufen werden: von 104 Fällen 2018 auf 249 im Jahr 2019. Besonders in Afrika breiteten sich die Vakzine-assoziierten Viren aus. Diese Entwicklung veranlasste die GPEI am letzten Weltpoliotag (24. Oktober 2019), auf die wachsende Gefahr der internationalen Verbreitung von Polioviren hinzuweisen.

Ziel: poliofreie Welt bis 2023

Der neue Strategieplan der GPEI umfasst Maßnahmen, um die dauerhafte Ausrottung von Polio bis zum Jahr 2023 erreichen zu können. Dafür müssen die Impfquoten und das Bewusstsein für Polio auch in den bereits poliofreien Ländern auf einem hohen Level gehalten werden, so auch in Deutschland!

Weitere Informationen über Poliomyelitis und Impfstoff-Entwicklung gegen Polio finden Sie auf unserer Website sowie in unserem neuaufgelegten Handbuch der Impfpraxis!
Die aktuellen Impfempfehlungen für Reiseländer bietet unser Reise-Impfberatungsprogramm IBERA online2020.

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Hintergrund

Vakzine-assoziierte Polioviren (VDPVs, vaccine-derived polioviruses)

Das Sabin-Virus ist attenuiert und Bestandteil des oralen Polio-Impfstoffs (OPV), der für die Bekämpfung der Poliomyelitis eingesetzt wird. Nach der Verabreichung von OPV vermehren sich die Impfviren für ungefähr 6 - 8 Wochen im Magen-Darmtrakt des Impflings und aktivieren das Immunsystem, wodurch der Schutz gegen den Erreger aufgebaut wird. Impfviren werden aber in dieser Zeit auch ausgeschieden und können Menschen ohne Impfschutz infizieren. Dadurch bauen ggf. diese Personen einen Schutz auf, dies führt so zur „Herdenimmunität“ in der Bevölkerung.

Die kurze Ausscheidungsphase in immungesunden OPV-Geimpften und eine hohe Populationsimmunität begrenzen die Übertragung der Impfviren. Je länger jedoch Impfviren zirkulieren, desto größer ist die Gefahr, dass sie sich genetisch stark verändern und zu sogenannten VDPVs werden, die ihre Virulenz wiedererlangen und paralytische Erkrankungen hervorrufen können. Dies kann vorkommen, wenn die Bevölkerung nicht ausreichend geschützt ist, weil die Polio-Impfquoten zu niedrig sind. VDPVs werden anhand der genetischen Divergenz zum ‚Eltern-OPV-Virusstamm‘ identifiziert. Viren, die > 1 % Divergenz (≥ 10 Nukleotid-Austausch für Typ 1 und 3) bzw. > 0.6 % (≥ 6 Nukleotid-Austausch für Typ 2) aufweisen, werden als VDPV definiert.

Wenn Vakzine-assoziierte Polioviren in der Population zirkulieren, werden sie als cVDPV (circulating vaccine-derived poliovirus) bezeichnet, sie können wie Wildpolioviren auch Ausbrüche verursachen, was seit 2000 zunehmend beobachtet wird.

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Hintergrund

Poliovirus

  • Humanes Enterovirus aus der Familie der Picornaviridae;
  • Einzelsträngiges RNA-Genom umhüllt von Proteinkapsid;
  • Wegen der fehlenden Lipidhülle resistent gegen Detergenzien;
  • Kann durch UV-Strahlung, Formaldehyd, Chlor, Hitze und inaktiviert werden;
  • 3 antigenisch unterschiedliche Serotypen (Typ 1, 2, 3), alle können Poliomyelitis hervorrufen.

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Hintergrund

Poliomyelitis

  • Inkubationszeit: 3 - 35 Tage;
  • Mehr als 95 % der Infektionen verlaufen asymptomatisch;
  • 2 % - 4 % der Infizierten entwickeln eine aseptische Meningitis (nichtparalytische Poliomyelitis),
  • Paralytische Poliomyelitis (akute schlaffe Lähmung) kommt bei bis zu 1 % der Infizierten vor, wenn die Viren das zentrale Nervensystem befallen und motorische Vorderhornzellen geschädigt werden;
  • Letalität der paralytischen Poliomyelitis: 2 - 5 % bei Kindern und 15 - 30 % bei Erwachsenen.
  • Jahrzehnte nach der Infektion kann der sog. Postpolio-Syndrom (PPS) bei etwa 25 - 40 % der an paralytischer Polio mit Restlähmungen Erkrankten auftreten: Zunahme der Paresen, Gelenkschmerzen, Muskelschwund und Fatigue.

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Quellen:

  1. Handbuch der Impfpraxis, Deutsches Grünes Kreuz, 2. Auflage 2020;
    https://www.dgkshop.de/de/Fachbuecher/Buecher/handbuch-der-impfpraxis-2019-2020.html
  2. Robert Koch-Institut: RKI-Ratgeber Poliomyelitis, Stand: 20.11.2015.
    https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Poliomyelitis.html
  3. Empfehlungen der STIKO beim Robert Koch-Institut:
    https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Empfehlungen/Impfempfehlungen_node.html
  4. Polio vaccines: WHO position paper – March, 2016. Weekly epidemiological record, No 12, 2016, 91, 145-168.
  5. World Polio Day – 24 October 2019. Weekly epidemiological record, No 43, 2019, 94, 497.
  6. Update on vaccine-derived polioviruses – worldwide, January 2018-June 2019. Weekly epidemiological record, No 46, 2019, 94, 532-540.
  7. RKI: Epidemiologisches Bulletin, 4. April 2019 / Nr. 14.
  8. RKI: Epidemiologisches Bulletin, 24. Oktober 2019 / Nr.34.
  9. Global Polio Eradication Initiative (GPEI):
     http://polioeradication.org/polio-today
  10. Auswärtiges Amt:
    https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/reise-gesundheit

Erstellt am 05.02.2020

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