Zucker ist für das Immunsystem nicht schmackhaft

Manche bakteriellen Erreger, wie Pneumokokken, Meningokokken und Haemophilus influenzae Typ b, tragen eine Polysaccharid-Kapsel und entziehen sich so der angeborenen Immunität, denn Zuckermoleküle sind „schlechte“ Antigene. Diese bekapselten Bakterien können gefährliche invasive Erkrankungen hervorrufen, insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern, weil bei ihnen das adaptive Immunsystem noch in einigen Details nicht vollständig entwickelt ist. Die Abwehr gegen bakterielle Erreger wird in diesem Alter noch vorwiegend durch die angeborene Immunität, die schnelle Eingreiftruppe des Immunsystems, bewerkstelligt. Sind dessen Schlüsselmoleküle, die Erregerstrukturen erkennen können, wie z. B. das Mannose-bindende Lektin (MBL) oder Mitglieder der Toll-like-Rezeptorfamilie zudem defekt, kann das für schwere Erkrankungsverläufe disponieren. Nach dem ersten Lebensjahr können Mechanismen des adaptiven Immunsystems zunehmend Defekte der angeborenen Immunität kompensieren.

Um die gefürchteten invasiven Erkrankungen im vulnerablen Säuglings- und Kleinkindalter zu verhindern, wurden zunächst Polysaccharid-Impfstoffe entwickelt. Es zeigte sich, dass Polysaccharide der Bakterienkapsel in der Zielgruppe nicht immunogen genug und die Vakzinen deshalb nicht wirksam genug sind. Der Grund ist, wie wir jetzt wissen, dass Polysaccharide ‚nur‘ eine B-Zellantwort auslösen, die insbesondere bei den Säuglingen mit noch „unreifem“ adaptiven Immunsystem schwach ausfällt.

Immunantwort auf Zuckermoleküle läuft anders als auf Proteine
Proteine werden durch dendritische Zellen oder B-Zellen aufgenommen, danach prozessiert und die so entstandene Peptid-Antigene an T-Helferzellen präsentiert. Die so aktivierten T-Helferzellen unterstützen die Antikörperproduktion von B-Lymphozyten. Diese T-Zell-abhängige B-Zellaktivierung führt durch somatische Rekombination und vollständigen Klassenwechsel (Isotopenswitch) zur Synthese hochaffiner Antikörper, zur Ausbildung von Gedächtnis-T- und B-Zellen und somit zu einem Langzeitschutz. Dies sind Abläufe, die für die Reifung der Immunantwort unabdingbar sind.

Polysaccharide werden im Gegensatz zu Proteinen nicht in antigenpräsentierende Zellen aufgenommen und entsprechend nicht an T-Helferzellen präsentiert, sie können ausschließlich B-Lymphozyten aktivieren. Sie binden direkt an B-Zellrezeptoren. Die dadurch aktivierten B-Zellen synthetisieren niedrigaffine Antikörper, ein Antikörperklassenwechsel von IgM zu IgG findet nur bedingt oder gar nicht statt (unvollständiger Klassenwechsel). Und was sehr bedeutsam ist: Die T-Zell-unabhängige B-Zell-Aktivierung führt nicht zur Bildung eines Immungedächtnisses, es entsteht kein Langzeitschutz, weil die Cytokin-Wirkung der T-Helferzellen fehlt.
(Siehe Abbildung 1)

Protein macht Polysaccharid schmackhaft
Die mangelnde Immunantwort der Polysaccharid-Impfstoffe im Säuglings- und Kleinkindalter hat man elegant dadurch gelöst, dass man Polysaccharid-Antigene an ein Trägerprotein gekoppelt hat. Als solche werden meist immunogene Tetanus- oder Diphtherie-Toxoide verwendet. Mit diesen Polysaccharid-Konjugat-Vakzinen wird die gewünschte T-Zell-abhängige B-Zellantwort ausgelöst: Immungedächtnis und damit Langzeitschutz. Und diese Vakzinen sind auch bei Säuglingen und Kleinkinder immunogen, zeigen aber auch bei Erwachsenen Vorteile. (Siehe Abbildung 2)

Neue Polysaccharid-Konjugat-Impfstoffe gegen Pneumokokken
Dieses Jahr wurden zwei weitere Konjugat-Impfstoffe, 15- und 20-valent, gegen Pneumokokken zugelassen. Die Pneumokokken-Standardimpfung mit Konjugatimpfstoffen für Säuglinge ist seit 2006 STIKO-Empfehlung, seit 2009 erfolgt sie mit dem 13-valenten Konjugat-Impfstoff (PCV13). Die universelle Säuglingsimpfung führte zu einer Verschiebung der Serotypenverteilung: Die im Konjugatimpfstoff erhaltenen Serotypen sind in allen Altersgruppen deutlich zurückgegangen. Deswegen ist es zurzeit wichtig, dass die „Senioren-Impfung“ ab 60 Jahren mit dem 23-valenten Polysaccharid-Impfstoff (PPSV23) erfolgt, der Schutz gegen weitere, in dieser Altersgruppe zirkulierenden Serotypen bietet.

Der 15-valente Pneumokokken-Konjugat-Impfstoff ist ab 6 Wochen zugelassen und kann STIKO-konform bereits jetzt für die Säuglingsimpfung eingesetzt werden. Der neue 20-valente PCV ist ab dem Alter von 18 Jahren zugelassen. Wie die Empfehlung der sequenziellen Pneumokokken-Indikationsimpfung (derzeit gültig: PCV13 gefolgt von PPSV23 nach 6 – 12 Monaten) oder die „Senioren-Impfung“ von der STIKO geändert wird, ist abzuwarten. Im Frühjahr 2023 ist mit einer neuen Empfehlung zu rechnen.

Aktuelle STIKO-Empfehlung für Pneumokokken-Indikationsimpfungen 2022:
Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit angeborenen oder erworbenen Immundefekten sowie Personen mit anatomischen und fremdkörperassoziierten Risiken (z. B. Liquorfistel, Cochlea-Implantat) sollen laut STIKO wegen der erhöhten Gefährdung sequenziell geimpft werden, zunächst mit einem Konjugat- (PCV13), und 6 bis 12 Monate später mit einem 23-valenten Polysaccharid-Impfstoff (PPSV23), um bei ihnen eine möglichst hohe Serotypen-Abdeckung zu erreichen. Chronisch Erkrankte, z. B. mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Asthma bronchiale, COPD, Diabetes mellitus oder neurologischen Krankheiten, sollen ab 2 bis 15 Jahren ebenfalls sequenziell geimpft werden, ab 16 Jahren erhalten sie eine Impfung mit PPSV23. Eine berufliche Indikation stellen Tätigkeiten wie Schweißen und Trennen von Metallen: hier soll eine Impfung mit PPSV23 erfolgen.
In allen Risikogruppen sollen Wiederholungsimpfungen mit PPSV23 im Mindestabstand von 6 Jahren erfolgen.


Erstellt: 14.01.2023

Quellen:

  1. STIKO: Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin 4/2022.
  2. STIKO: Wissenschaftliche Begründung für die Aktualisierung der Pneumokokken-Impfempfehlung für Senioren, Epidemiologisches Bulletin 36/2016.
  3. Knuf M. und Faber J.: Angeborene Immunität und Infektionen durch bekapselte Bakterien, Akt Dermatol 2011; 37: 159-163.
  4. Zündorf I., Vollmar A. und Dingermann T.: Grundprinzipien des Immunsystems, Deutsche Apothekerzeitung 147. Jahrgang, 1147-1160.
  5. Die Abbildungen wurden neu erstellt von DGK nach: Niehues T. et al.: Impfen bei Immundefizienz – Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen (I) Grundlagenpapier, Bundesgesundheitsblatt 2017 – 60:674-684 DOI 10.1007/s00103-017-2555-4.

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